In absehbarer Zeit wird über die Volksinitiative «für ein bedingungsloses Grundeinkommen» abge¬stimmt, die mit 126'000 Unterschriften zustande gekommen ist. Wird sie angenommen, so erhalten alle Einwoh¬ner¬In¬nen den bedingungslosen Rechtsanspruch auf einen Geldbetrag, der aus¬reicht, um ein menschenwürdiges Leben zu führen und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Die Höhe dieses bedingungslosen Grundeinkommens (im Folgenden BGE) wird im Initiativtext nicht festgelegt; die InitiantInnen gehen von 2500 Fr./Monat für Erwachsene und von der Hälfte bzw. einem Viertel für Minderjährige aus.
Am 20. April 2013 organisierte der Verein BIEN-Schweiz in Genf eine Studientagung zum Thema: «Sozialleistungen und bedingungsloses Grundeinkommen: vom Netz zum Sockel?». Fachleute aus dem Sozialbereich leiteten dabei BürgerInnen-Workshops zu folgenden Fragen: Wie würden Sie reagieren, wenn ein Grundeinkommen in der Schweiz eingeführt würde? Was würde sich in Ihrem Leben verändern? Welches sind Ihre Befürchtungen, welches Ihre Hoffnungen dabei?
Zwanzig Personen beteiligten sich an den Diskussionsgruppen, unter anderem neun Sozial¬arbei¬ter¬Innen, fünf BezügerInnen von Sozialleistungen, Lehrpersonen, Eltern von in Ausbildung ste¬hen¬den Jungen, ein Journalist, ein Beamter, zwei GemeinderätInnen. Sieben waren im Rentenalter; leider waren keine Jungen unter 30 Jahren und auch keine Behinderten anwesend.
Nachstehend berichten wir über die Ergebnisse dieser Workshops. Es handelt sich dabei nicht um eine repräsentative Studie, sondern um Überlegungen von Menschen, welche sich persönlich vom Grundeinkommens-Projekt betroffen fühlen.
[1]Sozialleistungen und bedingungsloses Grundeinkommen: vom Netz zum Sockel?
Das BGE nimmt Druck weg von den Jugendlichen bei der Berufswahl. Heute entscheiden sich viele Junge für einen Beruf nur im Hinblick auf eine spätere Anstellung, nicht aber aus Neigung oder Über¬zeu¬gung. Deshalb kommt es oft zum Abbruch der Lehre oder zu einer Neuausrichtung, in jedem Fall aber zu einem Zeitverlust. Das BGE würde diesen Druck verringern und so die Freiheit bei der Wahl erhöhen.
Mit einem BGE können sich verschiedene Jugendliche auf ihre Lieblingsbeschäftigung konzentrieren, z.B. die Musik.
Das BGE würde es Kleinunternehmen erleichtern, Lehrlinge auszubilden; dank dem BGE müssen solche Betriebe für die unproduktive Zeit weniger Lohn zahlen.
Wenn die jungen Menschen ab 18 Jahren 2500 Fr. erhalten, kann das in einigen Familien für Spreng¬stoff sorgen. Die betreffenden Familien bzw. die Jungen müssten bei der Verwaltung dieses Einkommens begleitet oder unterstützt werden.
Bereits während der Schulzeit müssen neue Fächer eingeführt bzw. entwickelt werden: Budgetprozesse (zunächst für Lebenshaltungskosten), Projektmanagement...
Im Moment sind verschiedene StudentInnen gezwungen, zur Finanzierung ihrer Ausbildung zu arbeiten, was sich negativ auf das Studium auswirken kann. Hier hätte das BGE sehr positive Auswirkungen.
Das BGE ist ein Beitrag zur Chancengleichheit für StudentInnen, welche heute grosse Mühe haben, ausreichende Stipendien zu erhalten.
Das BGE würde einen gewaltigen Fortschritt bedeuten für junge Erwachsene, die heute von der Sozialhilfe leben.
Wir verwenden hier einen weiten Arbeitsbegriff, der nicht nur die Anstellungsverhältnisse umfasst, sondern auch die selbständige Arbeit und unbezahlte Tätigkeiten im Rahmen der Familie, von Vereinen, Freiwilligenarbeit usw.
Das Grundeinkommen würde den Anteil der frei gewählten Teilzeitarbeit stärken. Es steht zu hoffen, dass dadurch die Arbeit besser verteilt würde bzw. dass die Arbeitslosigkeit sinkt: Wer sich zur Reduktion seiner Arbeitszeit entschliesst, macht Platz für andere.
Da das BGE unabhängig vom Arbeitseinkommen ausgerichtet wird, können auch nicht frei ge¬wählte Teilzeitarbeiten anständige Einkünfte garantieren, z.B. für Menschen mit labiler geistiger oder körperlicher Gesundheit. (Zur Erinnerung: Das BGE ersetzt die heutige IV-Rente, ohne dass man eine Gesundheitsbeeinträchtigung bzw. ihre Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit nachweisen muss.)
So können die Arbeitgeber gewisse Menschen mit gesundheitlichen Problemen oder mit sehr gerin¬gen Berufsqualifikationen für Teilzeitpensen einstellen (oder behalten); ihr Lohn wird durch das Grundeinkommen ergänzt, diese Arbeitnehmenden können trotz geringfügigem Lohn anständig leben. Heute werden diese Menschen oft krank wegen des Drucks; mit einem BGE entfällt diese Ursache.
Mit dem BGE erhalten die Erwachsenen eine Zeitoption, um Weiterbildung zu betreiben. Mit dem Wegfall oder mindestens der klaren Reduktion der finanziellen Hindernisse kann man sich an eine völlig neue Ausbildung machen oder sich im aktuellen Beruf weiterbilden, und zwar während der ganzen Karriere. Dieses Element ist besonders wichtig in einer Welt des rasanten Wechsels, wo gewisse Berufe ganz verschwinden und andere sich radikal verändern.
Heute wird eine Weiterbildung oft von den zuständigen Behörden verfügt, wenn sich ein Mensch neue Kompetenzen aneignen muss, um eine Stelle zu finden, zum Beispiel als Bedingung für den Bezug von Arbeitslosengeldern. Es wäre effizienter, wenn die Betroffenen ein entsprechendes Vorhaben selber erarbeiten bzw. ihren Weiterbildungszweig selber wählen und dabei bei Bedarf auf kompetente Beratung zählen könnten.
Würden die Menschen weniger arbeiten, wenn sie nicht dazu getrieben würden durch die Angst, ohne alle Lebens-Ressourcen dazustehen? Werden die Leute nicht faul, wenn sie nicht zur Arbeit gezwungen werden? Ist nicht der Lohn die Hauptmotivation zur Ausübung einer Berufstätigkeit?
Hier handelt es sich natürlich um zentrale Fragen im Zusammenhang mit dem BGE. Die Teil¬neh¬men¬den an den Workshops bestreiten nicht, dass es Arbeitnehmer gibt, welche so wenig wie möglich arbeiten wollen bei einem möglichst hohen Lohn. Aber generell haben die Workshop-Teilnehmenden völlig andere Erfahrungen gemacht.
So wurde zum Beispiel ein Arbeitgeber zitiert, der dem BGE positiv gegenüber steht und sich dar¬über beklagte, dass er keine wirklich motivierten MitarbeiterInnen findet, weil sie nur wegen des Lohns zur Arbeit kommen und nicht wegen des Interesses an der Arbeit selber.
Allgemein geht man davon aus, dass weniger Kontrollen zu einer Abnahme der Arbeitsqualität führt; dementsprechend haben sich die Kontrollen in den letzten Jahrzehnten deutlich verschärft mit periodischen Evaluationen usw. Die gleiche Tendenz zu verstärkten Kontrollen kann aber auch zu einer Minderung der Arbeitsqualität führen, wie dies ein Teilnehmer aufgrund eigenen Erfahrung berichtete: Mit der Einführung der Norm ISO 9002 wurde es zur Faustregel, dass die Arbeit nicht zu 100% korrekt ausgeführt werden soll, sondern nur zu 90%. Damit wird der Kunde dazu gezwungen, sich wegen der Reparatur wieder an den Lieferanten zu wenden. Wenn eine Maschine nicht funktioniert und man enge Fristen hat, versucht man Zeit zu gewinnen mit oberflächlichen Massnahmen; dafür muss man nachher die gleiche Arbeit nochmals erledigen.
Eine Lehrerin wies auf die verbreitete Meinung hin, dass sich die Kinder in der Schule ohne Noten nicht anstrengen würden. In der Praxis ist dies aber nicht der Fall.
Die Behauptung, dass der Mensch faul sei und sich nicht anstrengt ohne äusseren Zwang, war eines der zentralen Argumente der Anhänger der Sklavenhaltung.
Das BGE würde zweifellos die weitere Entfaltung von nicht bezahlten Tätigkeiten fördern. Wer nicht gezwungen ist, eine bezahlte Arbeit anzunehmen, ist eher bereit, freiwillige Aktivitäten auszuüben. In gewissem Sinn kann das BGE als eine soziale Anerkennung (Achtung: nicht eine finanzielle Entschädigung!) der Arbeiten ausserhalb des kommerziellen Sektors betrachtet werden.
Besonders klar ist dies bezüglich der Aufteilung der familiären Aufgaben zwischen Männern und Frauen: Heute ist es den Männern fast nicht möglich, sich im Haushalt zu engagieren. Mit dem BGE steht die Wahl frei; so kann sich auch die Mentalität verändern, wie dies ein Fallbeispiel zeigt: Eine Teilnehmerin, die eine Führungsposition bekleidet, fand es absolut normal, dass auch Männer Familienaufgaben übernehmen; sie ermöglicht jenen Vätern, die es wünschen, die entsprechende Anpassung der Arbeitszeit oder Teilzeitanstellungen. Im Lauf der Zeit hat diese Haltung die Mentalität aller Mitarbeitenden verändert.
Das BGE kann die Gleichstellung zwischen Männern und Frauen in der Arbeitswelt massiv fördern.
Es gibt aber auch die Befürchtung, dass das BGE die Frauen vermehrt dazu veranlasst, zu Hause zu bleiben und ihre Berufskarriere aufzugeben. Die Gegenposition dazu ist, dass die Eltern gerade dank dem BGE und vor allem dem BGE für Kinder in der Lage sein werden, Krippenplätze oder andere Hüteangebote von guter Qualität zu bezahlen. So haben die Eltern die Wahl – und zudem entstehen neue Stelle im Erziehungsbereich.
Auch wenn die meisten Menschen keine Angst davor haben, nichts mit sich anfangen zu können, erwarten doch einige Leute, dass man ihnen bei einer Vollzeittätigkeit genaue Anweisungen gibt, was sie zu tun haben; sie können nicht umgehen mit freier Zeit.
Mit dem BGE wird den Menschen, die keine Arbeit mehr haben, nicht mehr wie heute ein Rahmen von Anforderungen und Massnahmen der Arbeitsvermittlung oder der Sozialdienste vorgegeben. Bedeutet das für eine zunehmende Anzahl an Personen auch den sozialen Ausschluss?
Die Arbeitslosen befinden sich nicht in der gleichen Lage wie die Pensionierten. Sie stehen unter dem Schock der Kündigung. Diese Erfahrung ist brutal; sie bedeutet auch den Verlust der Bezie¬hun¬gen zu den Kollegen; für einige bricht der ganze Lebenssinn zusammen. Aber es gibt einen Platz für sie alle, z.B. in Vereinen und Organisationen; SozialarbeiterInnen unterstützen sie bei den Bemühungen um neue Aktivitäten. Solche Menschen dürfen nicht alleine gelassen werden.
Gewisse Menschen brauchen einen festen Rahmen. Das heisst aber nicht, dass dieser Rahmen in einer nicht frei wählbaren und obligatorischen Arbeit bestehen muss, ohne die man alle Rechte auf Sozialleistungen bzw. das Existenzminimum verlieren würde.
Verschiedene KritikerInnen befürchten, dass das BGE zu einer Verschärfung der Ungleichheiten führen würde und zu einer massiven Zunahme prekärer Anstellungen: Es bestehe die Gefahr, dass die Arbeitgeber missliche Löhne anbieten, welche die Arbeitnehmer akzeptieren, um das BGE etwas aufzubessern.
Aus dieser Perspektive ist die gesetzliche Festschreibung eines Mindestlohns als Begleitmassnahme zum BGE sehr wichtig. Die Einführung des BGE darf auch nicht zum Abbau anderer Bereiche des Arbeitnehmerschutzes missbraucht werden. Die Unternehmen könnten die Sicherung des Existenz¬mini¬mums zum Vorwand nehmen, ohne Rücksicht auf die Beschäftigten Kündigungen aus¬zu¬spre¬chen oder die Produktionsstätten zu verlagern.
Andere Workshop-TeilnehmerInnen waren der Ansicht, dass das BGE die Arbeitswelt derart verändern würde, dass ein Mindestlohn überflüssig wäre. Das Kräfteverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer würde sich zugunsten der Arbeiter verlagern: Dank dem Schutz durch das BGE würde niemand mehr einen misslichen Lohn oder unhaltbare Arbeitsbedingungen akzeptieren. Ein Mindestlohn könnte sogar kontraproduktiv sein und die Schaffung von neuen Stellen verhindern, welche zu Beginn niedrig entlöhnt würden, z.B. bei der Gründung neuer Unternehmen.
Das BGE würde die Lage jener Personen, die Sozialhilfe beziehen, von Grund auf verändern. Sie wären nicht mehr abhängig von einem repressiven und erniedrigenden System, in dem sie ihre Bedürfnisse begründen müssen und wo die «KundInnen» kontrolliert werden.
Mit der Einführung des BGE nimmt die Zahl jener Personen, welche Sozialhilfe in Anspruch neh¬men müssen, drastisch ab; ganz verschwinden werden sie nicht. Je nach Umständen reicht der BGE-Betrag nicht für ein anständiges Leben aus, denken wir nur an eine allein stehende Person in einer Stadt mit hohen Wohnkosten.
Es würde also weiterhin eine Form der bedürfnisgeprüften Sozialhilfe geben. Die Teilnehmenden diskutierten deren Grundzüge, vor allem was die Gegenleistungen angeht. Solche Gegenleistungen sollten dazu dienen, die Menschen in die Gesellschaft zu integrieren, sie sollten von den Bezü¬ger¬Innen selber erarbeitet werden, auch Freiräume enthalten sowie eine echte soziale Nützlichkeit aufweisen.
Die aktuelle Sozialhilfe beruht auf einem Machtverhältnis zwischen der Institution und den unter¬stützten Personen. Eine neue Sozialhilfe müsste dagegen den BürgerInnen die Autonomie über ihr Leben garantieren.
Die Befürchtung wurde geäussert, dass dadurch eine Billig-Sozialhilfe geschaffen würde. Das BGE darf nicht zum Vorwand werden, Unterstützungsleistungen für Personen in Schwierigkeiten abzu¬bauen. Auch dort, wo keine finanzielle Unterstützung mehr nötig ist, braucht es nach wie vor Beratung, Sozialinformation und psychologische Unterstützung durch Sozialarbeiter. Daneben ist die Sozialarbeit umso effizienter, wenn sie in freiwilliger Zusammenarbeit erfolgt. Soweit allerdings Personen mit grossen Schwierigkeiten nicht in der Lage sind, ihre Einkünfte selber zu verwalten, muss zu vormundschaftlichen Massnahmen gegriffen werden.
Für die RentnerInnen unter den Workshop-TeilnehmerInnen war klar, dass das BGE für sie nichts ändern würde. Sie sind allesamt vielseitig aktiv, auch wenn ihre Tätigkeit nicht entlöhnt wird. Sie teilen alle die Auffassung, dass das BGE für jene Pensionierten, welche keine volle AHV erhalten, eine klare Verbesserung bringt.
Ein grosser Vorteil des BGE besteht in der Möglichkeit, gegen Ende der Berufslaufbahn die Ar¬beits¬zeit zu verringern. Zahlreiche Menschen über 60 Jahre möchten heute die Anzahl ihrer Wo¬chen¬stunden reduzieren, weil de Arbeit zu stressig, ermüdend oder anstrengend wird. Gegenwärtig ist dies aber wegen des Lohns unmöglich. Ein Teilnehmer sagte, dass er sein Pensum gerne zurück¬gefahren hätte, wodurch er mehr Zeit für seinen Garten und für seine Enkel gehabt hätte; zudem hätte er Platz gemacht für andere Personen.
Nicht geklärt werden konnte die Frage, wie das Problem der BVG-Rente gelöst werden könnte, die bei einer Reduktion der Arbeitszeit ebenfalls kleiner wird.
Mit dem BGE könnten aber auch mehr Menschen im Rentenalter über das Pensionierungsdatum hinaus mit Teilzeitpensen weiter arbeiten, wenn sie Spass daran haben. Aus dieser Perspektive könnte das Grundeinkommen einen Beitrag zur Lösung jener Fragen leisten, die sich im Zusammenhang mit der Erhöhung des Lebensalters bzw. der Verlängerung der Beitragsdauer für die Sozialversicherung stellen.
Die Pensionierten waren auch besonders interessiert an den Fragen rund um die Grundwerte bzw. wie sie weitergegeben werden können: «Wie können wir unseren Kindern neue Lebensweisen vermitteln, die wir doch erzogen wurden zur Respektierung der Arbeit als zentralen Wert?»
Und ihnen kommt auch das Schlusswort zu:
«Das BGE würde das Sicherheitsgefühl stärken. Das ist gut für Paarbeziehungen und für soziale Beziehungen generell; es würde zu weniger Individualismus führen.»
Elisabeth Di Zuzio und Anne Le Duy – September 2013
Übersetzung: Albert Jörimann
Links:
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