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DER SINN DER ARBEIT (Notizen über das Referat von Prof. Sandro Cattacin)

Im Juni dieses Jahres haben wird anlässlich unserer letzten Generalversammlung Prof. Dr. Sandro Cattacin, leiter der Abteilung für Soziologie an der Universität Genf, dazu eingeladen, eines öffentliches Referat zum Thema „der sinn der Arbeit“ zu halten. Heute bedanken wir uns dafür, dass Prof. Cattacin unsere Einladung angenommen hat und möchten das Interesse seines Beitrags unterstreichen. Im folgenden können Sie eine auf die Basis von Notizen eines Teilnehmers geschriebene Kurzfassung dieses Beitrags nachlesen, die unser Vizepräsident Bernard Kundig  anschließlich kurz kommentiert.

Im Mittelalter gab es die Lohnarbeit so wie wir sie heute kennen noch nicht; es gab Sklaverei und Leibeigenschaft, während die Arbeit weder einen moralischen Wert hatte noch als Lebensstruktur begriffen wurde. Erst mit der Gründung von Berufskorporationen in den Städten entwickelten sich Organisationen rund um die Arbeit sowie auf Arbeit sich berufende Ideologien.


Im Sechzehnten Jahrhundert verbreitete sich im Zuge der protestantischen Herausforderung zum ersten mal eine vom „Leid des hiesigen Lebens“ sich distanzierende Interpretation und eröffnete eine neue Perspektive, und zwar die Möglichkeit einer besseren Existenz. Das war das Leitbild der späteren, nicht orthodoxen Auffassungen. Zunächst aber, gegenüber den Auswüchsen eines dekadenten Katholizismus, forderte der Protestantismus ein asketischeres Verhalten; damit ging auch eine neue Ideologie des Sparens bzw. der Ersparnisse („Das Geld bleibt in der Familie“); diese Haltung liefert die Basis für den wirtschaftlichen Erfolg der protestantischen Regionen, wo ab Anfang des sechzehnten Jahrhunderts beeindruckende Wachstumsraten zu beobachten sind.

Anfang des neunzehnten Jahrhunderts schließ diese Evolution, was die Arbeit anbelangt, mit dem Ende des verallgemeinernden Vorwurfs der „Faulheit der Ungläubigen“. Um ein konkretes Beispiel anzugeben, entsteht damals der Begriff des Arbeitslosen. Dieser wird nicht mehr als Faulpelz, sondern als ein Mensch auf dem richtigen Weg (also auf Arbeitssuche) betrachtet, der sich schlechten Bedingungen ausgesetzt sieht. Nur noch ein Schritt war dann noch notwendig, um die Arbeitslosen als Opfer des wirtschaftlichen Schicksals anzusehen.

Indem er die Arbeiter weg von den Fabriken hin zum Schlachtfeld und schließlich zu den Friedhöfen führte, erschütterte der erste Weltkrieg – der letzte „traditionelle“ Krieg – die der Arbeit gewidmete Lebenshaltung. Gleichzeitig erschienen die Keime der „Freizeitgesellschaft“ (leisure society), vor allem in den zwanziger Jahren. Nach der Krise 29/33 und dem zweiten Weltkrieg, setzte sich unter der Flagge des „Fortschritts“ und des „Wirtschaftswachstums“ ein globales Einvernehmen zwischen Kapital und Arbeit durch. Das hat man später Fordismus genannt (nach dem Namen Henri Ford, des ersten Großunternehmer der Massenindustrie); das System kannte seine glorreichen Jahren von 1945 bis 1975. Aus soziologischer Sicht verstand sich der Fordismus als eine rund um die Fabrik angesiedelte, zweite Familie, die in Extremfällen wie beispielsweise bei Olivetti in Ivrea (Norditalien) nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch Wohnungen, soziale und kulturelle Angebote u.a. zur Verfügung stellte. Später wurde dieses aus den USA stammende System in sehr unterschiedlichen Gesellschaften adoptiert, wie etwa in Japan.

In technisch und wirtschaftlicher Hinsicht hat der Fordismus Massenproduktion und Massenkonsumtion zum gemeinsamen Nenner, verbunden mit einer sogenannt „wissenschaftlichen“ Arbeitsorganisation, wonach die einzelnen Arbeitsaufgaben extrem aufgeteilt werden, um einstweilen noch rigide und monofunktionale Fertigungsverfahren einsetzten zu können (zum Beispiel die Fließbandarbeit). Mit einem sehr hohen Anteil an fixen Kosten rentiert sich der Fordismus erst mit steigender Produktmenge und ist daher grundsätzlich auf Wirtschaftswachstum angewiesen. Unter diesen Bedingungen erfährt die Industrie eine spürbare Erhöhung der Produktivität, während aus normativer Sicht sich die „Arbeitsgesellschaft“ etabliert. Das ist der historische Höhepunkt des „Sinns“ und der positiven Wertung der Arbeit.

Die das Ende des fordistischen Zyklus verkündenden Zeichen waren bereits gegen Ende der sechziger Jahre in Erscheinung getreten und koinzidierten mit der Bewegung von 1968 (die erste Generation, die den Krieg nicht gekannt hatte). Es verbreitete sich ein neues, existentialistisches Modell, mit dem Vorrang des Individuums und seiner Existenz über die Arbeit (nicht zufällig begegnete diese Bewegung zunächst den Widerstand der Gewerkschaften).

Ende der siebziger Jahren entsteht die „new age“ Bewegung: Es wird viel gearbeitet, aber mit regelmäßigen Unterbrechungen, um sein Leben außerhalb der Arbeitswelt leben zu können. In der Unternehmenskultur entspricht diesem Wertesystem eine, mit dem systematischen Einsatz der neuen Technologien (Informatik) auch eine neue Flexibilität der Arbeitsorganisation, die ihrerseits die in den siebziger Jahren stagnierende Arbeitsproduktivität wieder ankurbeln wird.

In normativer Hinsicht, zerbröselt die Arbeit als unbestrittener Sinn des Lebens im laufe derselben Entwicklung. Sinn der Arbeit ist fortan das Geldverdienen. In einer normalen durchschnittlichen Berufsbiographie ändert man heute alle 5 Jahre den Arbeitsplatz. Hinzu kommen der Rhythmus der Betriebsschließungen und –gründungen sowie regionale Versetzungen (Veränderungen des Arbeitsorts). Verbunden mit nicht sozialisierende, wenn nicht präkäre Arbeitsplätze, stellt man einen tiefgehenden Zerfall der Arbeitsidentität fest. Allein 30% der Beschäftigten sind heute mit ihrer Arbeit zufrieden – mehrheitlich Personen, die eine privilegierte Position bekleiden, Führungskräfte von denen sich sagen lässt, dass sie weniger eine Arbeit durchführen, als eine (bezahlte) Tätigkeit ausüben, die ihnen passt. Die übrigen Erwerbstätigen leiden. Das zeigt sich an den Frauen, die zu 44% in den Haushalt zurückkehren möchten. Damit entsteht ein Bedarf an Überlebensstrategien: so die Rückkehr zur Spiritualität, das Wiederaufleben der Familienwerte und die boomenden, an die Person gerichteten Dienstleistungen (wie etwa Massagen oder auch „wellness“).

Auf staatlicher Ebene wird diese Entwicklung über eine Verbreitung der Einkommenstransferpolitik begleitet; doch findet diese Transferpolitik auf minimaler Ebene statt. Seit den Zeiten von Margret Thatcher stellt man eine stetige Erhöhung der Sozialleistungen fest (in Genf sind es mittlerweile fast die Hälfte der Einwohner die solche Leistungen bezieht); doch trägt diese Form von Sozialstaat zugleich zur Entwertung der herkömmlichen Arbeit bei. Die Tatsache, dass der Staat an die leer gewordene Stelle des Unternehmens-Familie eintritt, führt nur zu seiner Bürokratisierung, während das Verhalten des Durchschnittsbürgers dem eines Individuums ähnelt, der mit den Verhältnissen „zurechtkommen“ lernt, um so gut wie möglich zu überleben, indem er nicht aufwertende Beschäftigungen mit Sozialleistungen mixt.
 
Gleichzeitig verschwinden die herkömmlichen Orte des zwischenmenschlichen Austausches, in den Unternehmen oder nach der Arbeit. Die Menschen befinden sich immer mehr in einem internen Dialog. Das hat seine Bedeutung, weil für das Individuum der Sinn sich normalerweise kraft sozialer Verbindungen und damit zusammenhängender Annerkennung bzw. Perspektiven ergibt. Wenn diese Elemente sich in ihrer traditionellen Form auflösen, sind neue Lösungen gefragt.

Mit dem Internet hat sich über eine Art zunächst virtueller Gruppierungen kleiner bzw. kleinster Dimension zu bestimmten Themen ein Weg eröffnet. Andere Gruppen, mit „psy“ Charakter (laïsch oder metaphysisch) haben sich seitdem gebildet. Deren Dynamik nährt sich vom Wunsch, Leiden zu vermeiden, und dieser Wunsch stellt einen realen Veränderungspotential dar. Einstweilen fehlt ihm jedoch ein Gesellschaftsprojekt.


Kommentar

Wie aus dem Referat von Prof. Cattacin hervorgeht, ist die Auflösung des Arbeitswertes keine potentielle Folge des bedingungslosen Grundeinkommens, sondern das reale Resultat der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, die wir seit dem Ende des Fordismus erleben sowie, damit verbunden, das Heranwachsen eines sich weit ausdehnenden, bürokratischen Sozialstaats, der in seinem Anliegen versagt, die immer zahlreicheren Löcher der wirtschaftlichen und sozialen Sicherheit zu schließen (Das, was einst als Ausnahme eingeplant, wird zur Regel).

Wenn Alle auf derselben Art und Weise subventioniert werden, ist es gleich als ob Niemand subventioniert wird. Denn problematisch aus normativer Sicht ist nicht die Subvention selbst, sondern das Verhältnis, das sie zwischen Subventionierten und Nicht- Subventionierten schafft. Indem das Grundeinkommen den zur Deckung des Existenzminimums notwendigen Anteil des Nationaleinkommens sozialisiert, befreit es die postfordistische Gesellschaft von der an der individuellen Sozialhilfe haftenden, sozialen Stigmatisierung. Zugleich bedeutet das Grundeinkommen das Ende eines bürokratischen Wasserkopfs, der von der Illusion lebt, der Staat könne alles lösen. Und schließlich schafft das Grundeinkommen gesündere Rahmenbedingungen für Privatinitiative und Arbeitsmarkt.

Infolgedessen lässt sich annehmen, dass entgegen allem – von nostalgischen Bildern der Vergangenheit sich nährenden – Anschein,  das Grundeinkommen den moralischen Wert der Arbeit auf einer neuen Grundlage wiederherstellen wird, ohne dafür irgendwelche Gewalt einsetzen zu müssen, sondern auf den freien Willen aufbauend: auf den Wunsch eines jeden Menschen, sich für andere Menschen nützlich zu erweisen und die damit verbundene, soziale Annerkennung zu genießen, sich als „jemandem“ zu fühlen – ein sowohl vor dem eigenen Spiegel als auch vor dem Sozialarbeiter unmögliches Unterfangen.

Wo die Zeit zu wollen fehlt, weil man soviel muss, da ist Platz weder für Ethik, noch für Leistung, noch für anderes.

 

Bernard Kundig
 

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